Samstag, 17. November 2012

Belo Monte ist zum Prestigeprojekt geworden

Radio Vatikan, 14.11.2012
Brasilien: Wirtschaftswachstum über alles
RealAudioMP3 Die katholische Kirche sollte heute „Notbremse“ sein in einer Zeit allzu großer Beschleunigung. Dieser Appell kommt aus Brasilien, dem Land, das bis vor Kurzem weltweit noch als neue Wirtschaftssupermacht galt. Vor allem die indigenen Völker leiden unter der brasilianischen Export- und Wachstumspolitik. Und die globale Leistungslogik wirkt sich inzwischen auch negativ auf die Pastoral in Brasilien aus. Das erzählt der deutsche Theologe Paulo Suess im Interview mit Radio Vatikan. Der ehemalige Generalsekretär des Indigenen Missionsrates (CIMI) der katholischen Kirche in Brasilien lebt und wirkt seit 1966 in dem Land. Er hat in diesen Tagen in Rom einen Vortrag zum Thema Mission 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil gehalten und kam danach bei uns im Radio vorbei.

Die Landfrage ist in Brasilien nach wie vor das größte Problem für die indigene Bevölkerung, so Suess. Die brasilianische Regierung handelt im Sinne einer immer noch stark rohstoffabhängigen Wirtschaft. Zwar dämmt sie mit ihrer Wachstumspolitik insgesamt auch Armut im Land ein, so sind etwa in den vergangenen Jahren in Brasilien 30 Millionen Einwohner in die Mittelklasse aufgestiegen. Das Wohl und die Rechte der Ureinwohner spielten für die Landesführung aber kaum eine Rolle, so Suess. Dabei sei die indigene Bevölkerung in den vergangenen 40 Jahren stark gewachsen:

„Die Regierung hat ein Programm zur Beschleunigung des Wachstums gestartet und alles auf Exportwirtschaft angelegt, es geht da auch um Royalties. Da ist das Indianerland sehr gefährdet. Die indianische Bevölkerung wächst aber, sie braucht dieses Land, sie haben ja auch ein Recht darauf. Als wir anfingen bei CIMI, da gab es 80.000 Indios in Brasilien, heute gibt es 800.000.“
Für die Rinderzucht würden in Brasilien riesige Landflächen reserviert, für die Indios „nicht ein Hektar“, spitzt der Theologe das Dilemma zu. Durch das „Agrobusiness“ würden nicht nur Lebensraum und Kultur der Indios angegriffen, auch ihre Vision von einem ganzheitlichen, nachhaltigen Wirtschaften in Einheit mit der Natur werde völlig abgewertet. Dass sich auf brasilianischem Boden derzeit eine der „weltweit größten Tragödien für indigene Völker“ abspielt, werde – zumindest vereinzelt – heute auch in der Politik gesehen, so Suess. Positive Folgen für die Ureinwohner hätten diese Einsichten trotzdem nicht. Das werde zum Beispiel am „Prestigeprojekt“ Bela Monte deutlich, dem „Mega“-Staudamm, der auf Biegen und Brechen gebaut werden soll – gegen den Protest von Umweltschützern, Indigenen, Forschern und der katholischen Kirche.

„Der letzte Stand ist auch der vorletzte: Es gibt immer mal wieder kleine Rechtssiege, dass irgendetwas eingestellt wird für eine gewisse Zeit, dann wird das wieder widerrufen, dann kommen wieder ein paar Monate Arbeiten, dann wird es wieder eingestellt. Belo Monte ist so ein Prestigeprojekt geworden. Die Regierung hat eingesehen: Das bringt wohl gar nicht viel – wenn wir all das gewusst hätten, was wir jetzt wissen, hätten wir es gar nicht angefangen. Aber nachdem wir es jetzt angefangen haben, müssen wir es auch durchziehen, sonst ist es ein Zeichen der Schwäche.“
Dabei hätten Wissenschaftler vorgerecht, dass die Wasserkraft, die am Bela Monte-Staudamm gewonnen werden soll, gemessen am Aufwand wenig Elektrizität erzeugen wird. Außerdem fiele die Energiegewinnung in der Trockenzeit sowieso flach, so Suess, der sich eine Grundsatzdebatte über Nachhaltigkeit und Energiegewinnung wünscht, auch in der katholischen Kirche. Der Theologe ist in regem Austausch mit Bischof Erwin Kräutler, der in der Protestbewegung gegen den Staudamm aktiv ist. Den ganz großen Durchbruch zugunsten der Ureinwohner hält Suess im Fall Bela Monte für unwahrscheinlich:

„Ich hoffe immer noch, dass der Starrsinn abgebremst wird. Aber der Starrsinn, der hat Polizeigewalt, die Vernunft, sie geht wehrlos einher, sie verliert oft gegen den Starrsinn, der bis an die Zähne bewaffnet ist.“
Die Wachstumspolitik hinterlasse auch im brasilianischen Arbeitsalltag ihre Spuren - alle müssten mehr in kürzerer Zeit leisten. Suess nennt ein Beispiel:

„Ich habe einen Zockerrohrschneider, der in meinem Büro schläft, der hat früher sechs Tonnen Zuckerrohr schneiden müssen, heute muss er zwölf schneiden. Es geht alles schneller. Und wir lassen uns das auch in der Pastoral aufreden, dass es schneller gehen muss, weil wir weniger Leute sind. Ich sage immer, wir sind ,missionarische Formeleins-Fahrer‘, wir gehen schnell aufs Indianerdorf, machen irgendwas, dann geht’s wieder weiter… Wir haben fast keine Zeit, da zu sein, präsent zu sein! Dabei lebt Pastoral doch genau davon – von dieser Präsenz und Ausstrahlung. Da müssen wir uns immer wieder anstrengen, dass wir nicht auf diesen Trend der Beschleunigung reinfallen. In vieler Hinsicht sollte die Kirche doch heute Notbremse sein, die das beschleunigte Projekt, das auf den Abgrund zusteuert, bremst.“
Brasiliens Kirche habe allerdings heute auch noch ganz andere Sorgen, so der Theologe mit Blick auf die Jugendpastoral weiter. Viele junge Menschen seien orientierungslos, es fehlten geistliche Vorbilder, und auch der spärliche Priesternachwuchs lasse zu wünschen übrig:

„Wir haben große Schwierigkeiten mit der Sozialisation von religiösen Werten, überhaupt von religiösem Mindestwissen. Und das spüren auch Ordensgemeinschaften. Da kommt einer, der in den Orden eintreten will, und wir müssen erst mal einen Basiskurs Katechismus machen, die bringen nichts mehr mit! Das war früher die Oma gewesen auf dem Land, die das mitgegeben hat, aber heute ist in der Stadt kein Platz mehr für die Oma in der Wohnung, in Brasilien wohnt man schnell zusammen und alles geht schnell weg morgens und kommt abends spät nach Hause. Und da findet dann keine religiöse Sozialisierung mehr statt.“
Angesichts dieser Tendenz sei es für Brasiliens Kirche umso wichtiger, „Ballast abzuwerfen“, „zum Wesentlichen zu kommen“ und „Prioritäten zu setzen“, so Suess, der sich im Jubiläumsjahr zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils für eine erneuerte Mission ausspricht. Hier gebe es auch in Brasilien „noch viel zu tun“, so Paolo Suess. Der ehemalige CIMI-Generalsekretär gibt heute neben seiner theologischen Beratertätigkeit für den Indigenen Missionsrat Kurse über Mission, Inkulturation, indigene Kultur, Volksreligiosität und interreligiösen Dialog. Der bekannte Theologe hat den Begriff der „Option für den Anderen“ geprägt und Grundgedanken der Befreiungstheologie weiterentwickelt.